Der Bibeldoktor │ Online-Proseminar #05

Es war einmal … Eine Folge über das Erzählen.

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Literaturangaben zum Podcast:
Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders., Gesammelte Schriften II/2.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 438–465.
Odo Marquard: Narrare necesse est, in: Ders.: Philosophie des Stattdessen. Studien (Reclams Universal-Bibliothek 18049), Stuttgart: Reclam 2000, S. 60–65.


Jede Methode hat ihre Geschichte

Die verschiedenen exegetischen Methodenschritte haben ihre eigene Geschichte. Und sie stammen aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen und fachlichen Zusammenhängen. Die semantische Analyse (Folge 04), die von der Bedeutungsebene sprachlicher Zeichen her denkt, entstammt einem sprachwissenschaftlichen Ansatz. Exegetische Schritte wie Textabgrenzung und Übersetzung (Folge 02) sowie die Frage nach der Struktur des Textes (Folge 03) sind wissenschaftsgeschichtlich älter und stammen aus dem Bereich der Klassischen Philologie, die sich mit den alten Sprachen Griechisch und Latein beschäftigt.

In dieser und der nächsten Folge kommen ausgewählte erzähltheoretische (= narratologische) Methodenschritte in den Blick, die heute fester Bestandteil moderner Literaturwissenschaften sind. Die Erzähltheorie hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt und ist in sich wiederum sehr vielfältig.

Erzähltheoretische Ansätze

Erzähltheoretische Ansätze untersuchen die Darstellungsform von Erzähltexten. Sie fragen danach, wie eine Geschichte konkret erzählt wird. Eine besonders wichtige Grundunterscheidung ist daher zunächst die zwischen dem Plot einer Erzählung und der Story.

Der Plot einer Erzählung

Plot (auch: Sujet oder Discours) bezeichnet die Art und Weise, wie die erzählten Ereignisse im Text konkret angeordnet und gestaltet sind. Folgende Aspekte lassen sich erzähltheoretisch auf der Ebene des Plots untersuchen:

Die Story einer Erzählung

Story (auch: Fabula, Histoire oder einfach der Stoff einer Erzählung) bezeichnet die zeitlich-lineare (chronologische) Reihenfolge der im Text erzählten Ereignisse. Anders formuliert: Story meint die logische Abfolge, in der die in einer Erzählung präsentierten Ereignisse eigentlich angeordnet wären, würde der Plot sie nicht kunstvoll und spannend darbieten. Die Story ist somit erst aus dem konkreten Plot einer Erzählung heraus zu rekonstruieren, weil eine Erzählung nur sehr selten konsequent entlang der Story entwickelt wird.

Folgende Aspekte lassen sich erzähltheoretisch auf der Ebene der Story untersuchen:

  • die Handlung selbst (mit ihren Einzelereignissen und der Ereignisfolge) sowie
  • die handelnden Figuren und ihre Interaktionen.

Die Unterscheidung zwischen Plot und Story wird verständlicher, wenn man sie sich an einem konkreten Beispiel anschaut. Besonders gut geeignet ist der Krimi, entweder als Kriminalroman zum Lesen oder in seiner verfilmten Variante.

Plot und Story im Krimi

Der Plot eines Krimis beginnt in der Regel (aber nicht immer!) mit einer Leiche am Beginn. Sie ist der Ausgangspunkt für die Ermittlungen der Kommissarinnen und Kommissare. Am Ende fassen sie (hoffentlich) den Täter oder die Täterin. Es folgt im Idealfall ein Geständnis.

Beim Krimi entsteht die Spannung überhaupt erst dadurch, dass Plot und Story unterschiedlich konzipiert sind! Es werden eben nicht die genauen Umstände des Mordes am Beginn mit allen Details erzählt, sondern die Erzählung setzt dort ein, wo die Konsequenz des Mordes, nämlich der Todesfall, bekannt wird.

Die Frage nach dem Täter oder der Täterin wird somit die gesamte Erzählung hindurch aufrecht erhalten und durch andere erzählerische Mittel verstärkt. Erst im Geständnis am Ende erfährt die Leserin oder der Leser in einem erzählerischen Nachtrag (fachsprachlich Analepse genannt), was ganz am Anfang, bevor der Plot der Erzählung einsetzte, eigentlich passiert ist. Im Film wird an dieser Stelle häufig mit einer Rückblende gearbeitet: Man sieht jetzt den Täter oder die Täterin, wie er oder sie zur Waffe greift. Die Spannung ist aufgelöst.

Bitte den Regler nach links schieben, um den Plot mit der Story zu vergleichen:

Die Analyse der Story

Angesichts der Fülle, die untersucht werden könnte, beschränken wir uns in dieser und der nächsten Folge auf diese Handlungsdimension von Erzählungen und schauen uns auch die handelnden Figuren an. Diese beiden Größen machen die Struktur der Erzählung im Wesentlichen aus. In dieser Folge soll es um die Handlungen selbst gehen, bevor in Folge 06 die Figuren und ihre Interaktionen näher untersucht werden.

Die Handlungssequenzanalyse

Ziel ist es, die in der Erzählung erzählten Handlungen und Ereignisse in ihrer logischen und damit chronologischen Reihenfolge zu erfassen. Damit kann man herausfinden, wie eine Erzählung die Handlung konstruiert und welche Erzählfiguren die Handlung der Erzählung entscheidend voranbringen. Die Hauptfigur einer Erzählung ist häufig mit den wichtigsten und/oder mit den meisten Handlungsschritten einer Geschichte verbunden. Konkret äußerst sich das im Text daran, dass mit ihr besonders viele Handlungsverben verknüpft sind.

Damit ist die Handlungssequenzanalyse eine wichtige Vorarbeit für die Aktantenanalyse (Analyse der Story II in Folge 06).

Eventketten erstellen

Die Erstellung einer vollständigen Eventkette dient dazu, die erzählte Ereignisfolge in ihrer logisch-chronologischen Reihenfolge aus dem Plot der Erzählung möglichst vollständig zu rekonstruieren. Am Ende hat man somit die Story einer Erzählung rekonstruiert und damit zugleich die Verschiebungen erfasst, die der Plot vorgenommen hat.

“Event” meint eigentlich einfach “Handlung” oder “Ereignis”, wird hier aber in einer Spezialbedeutung verwendet, im Unterschied zum Motiv:

Event = ein Handlungsschritt auf der Ebene der Story.
Motiv = ein Handlungsschritt auf der Ebene des Plots.

Event und Motiv bestehen in der Regel aus der Nennung einer Figur und eines Handlungsverbs: Peter geht (zum Bäcker).

Konkretes Vorgehen:

  1. Sie unterstreichen die Verben (Tätigkeitswörter) innerhalb der Erzählung,
  2. Sie benennen die damit verbundene Handlung (also die einzelne Tätigkeit) durch einen zentralen Begriff oder einen kurzen Satz und
  3. Sie erstellen schließlich eine chronologische Liste der Events. Notieren Sie dabei auch die jeweilige Erzählfigur, die die Handlung ausführt.

Dabei werden Sie unterschiedlichen Schwierigkeiten begegnen:

Zwei Fachbegriffe helfen Ihnen, die Reihenfolge der Ereignisse genau zu beschreiben. Es sind die Begriffe Prolepse und Analepse:

Prolepse bezeichnet eine Vorwegnahme, also das Phänomen, dass auf der Ebene des Plots ein logisch-chronologisch eigentlich späteres Ereignis früher erzählt wird. Ein Beispiel ist etwa Mk 8,31 mit dem Verweis auf Tod und Auferstehung Jesu, die beide erst später im Markusevangelium erzählt werden:

“Dann begann er, sie darüber zu belehren: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.”

Mk 8,31 (EÜ 2016)

Analepse bezeichnet eine Rückblende, also das Phänomen, dass auf der Ebene des Plots, ein logisch-chronologisch eigentlich früheres Ereignis später nachgetragen wird. Im Krimi ist das Geständnis in der Regel als Analepse angelegt: Erst am Ende wird erzählt, was eigentlich am Anfang passiert ist. Ein neutestamentliches Beispiel ist Joh 4,7f., wo nachgetragen wird, warum die Jünger am Gespräch zwischen Jesus und der Frau gar nicht mehr teilnehmen:

“Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen.”

Joh 4,7f. (EÜ 2016)

Beispiel: Die Sterndeuter-Erzählung (Mt 2,1–12)

So könnten die ersten Schritte einer Eventkettenanalyse aussehen. Links ist die leicht gekürzte Fassung der Sterndeuter-Erzählung aus Mt 2,1–12 zu lesen (in der Übersetzung des MNT, dort werden die Sterndeuter als “Magier” übersetzt), rechts finden Sie die Eventkette:

1 Als aber Jesus geboren war in Bethlehem in der Judaia in den Tagen des Herodes, des Königs,
siehe, Magier von Osten kamen nach Jerusalem,
2 sagend: „Wo ist der (neu)geborene König der Judaier? Denn wir sahen seinen Stern im Osten, und wir kamen, ihm zu huldigen.“
3 Es hörend aber, wurde der König Herodes verwirrt und ganz Hierosolyma mit ihm,
4 und versammelnd alle Hochpriester und Schriftkundigen des Volkes,
erkundigte er sich bei ihnen,
wo der Christos geboren werde.
5 Die aber sprachen zu ihm: „In Bethlehem in der Judaia; denn so ist geschrieben durch den Propheten: 6 ‚Und du Bethlehem,‘ Land Juda, keinesfalls ‚die geringste bist du unter den Führern Judas; denn aus dir wird herauskommen ein Führer, welcher weiden wird mein Volk Israel.‘“
7 Da, heimlich rufend die Magier,
erkundete Herodes genau bei ihnen die Zeit des erscheinenden Sterns,
8 und schickend sie nach Bethlehem,
sprach er: „Hineingehend forscht genau nach dem Kind! Wann ihr es aber gefunden habt, meldet mir, auf daß auch ich kommend ihm huldige.“
9 Die aber, hörend den König,
gingen weg;
und siehe, der Stern, den sie sahen im Osten, ging ihnen voran,
bis kommend er darüber stand,
wo das Kind war.
[…] 11 Und kommend in das Haus, sahen sie das Kind mit Maria, seiner Mutter, und (nieder)fallend huldigten sie ihm […]
12 Und unterwiesen im Traum, nicht zurückzukehren zu Herodes, auf einem anderen Weg entwichen sie in ihr Land.
1. Jesus wird geboren (Passiv!)
2. Magier kommen
3. Magier erkundigen sich nach Geburtsort (Sprechhandlung) (analeptisches Element: haben Stern gesehen; proleptisches Element: wollen huldigen)
4. Herodes hört von der Suche nach dem König
5. Herodes und Jerusalem werden verwirrt (Passiv!)
6. Herodes versammelt Hohepriester und Schriftkundige
7. Herodes erkundigt sich nach Geburtsort des Christus
8. Magier leiten Geburtsort aus der Schrift her (Sprechhandlung)
9. Herodes ruft die Magier
10. Herodes erkundigt sich nach dem Zeitpunkt, an dem der Stern erschienen ist
11. Herodes schickt sie nach Betlehem
12. Herodes beauftragt die Magier nach dem Kind zu forschen und ihn zu benachrichtigen (Sprechhandlung) (proleptisches Element: wenn das Kind gefunden ist, wird er kommen und dem Kind huldigen)
13. Magier hören Herodes
14. Magier gehen weg
[Rückbezug auf Event Nr. 3: Stern, den sie sahen im Osten]
15. Stern geht voran
16. Stern kommt
17. Stern steht
[Kind verweilt als duratives Ereignis, seit Event Nr. 1]
18. Magier kommen ins Haus
19. Magier sehen Maria und Kind
20. Magier fallen nieder
21. Magier huldigen dem Kind (20 und 21 parallel?)
22. Magier werden unterwiesen, nicht zurückzukehren (Passiv!)
23. Magier entweichen
Rekonstruktion der Eventkette zu Mt 2,1–12

Auswertung einer Eventkette

Wie wertet man jetzt solche Beobachtungen aus?

Zunächst einmal kann man zählen, welche Figur wie häufig mit Handlungsverben verbunden wird:

  • Magier: 10 Mal
  • Herodes: 7 Mal
  • Stern: 3 Mal

Das zeigt: Die Magier tragen die gesamte Erzählung. Sie sind von Beginn an bis zum Ende Teil der Erzählung.

Weiter kann man sich anschauen, welche Figuren mit (wie vielen) dynamischen oder statischen Events verbunden werden:

  • Beide, die Gruppe der Magier und Herodes, werden mit dynamischen Verben verbunden. Sie sind somit sehr aktiv. Es fällt allerdings auf, dass die Magier die Initiative ergreifen. Sie ziehen los, nachdem Jesus geboren ist. Herodes hingegen bricht erst in einen Aktionismus aus, als er die Nachricht von der Geburt eines Königs von den Magiern erfährt.
  • Die Magier sind etwas zurückhaltender. Sie haben aber das entscheidende Wissen über die Ereignisse und den Geburtsort des Christus. Herodes nützt sein Aktionismus nichts, weil er auf ihre Informationen angewiesen ist.
  • Interessant ist, dass der Stern in drei Events als handelnde Figur in Erscheinung tritt, die sowohl mit dynamischen als auch mit statischen Verben verbunden wird. Obwohl Herodes so aktiv ist und die Magier beauftragt, folgen sie seinen Anweisungen nicht, sondern folgen ausgerechnet der Erzählfigur, die mit den wenigsten Handlungsverben verbunden ist, nämlich dem Stern.

Auch Passiv-Formulierungen kann man auswerten:

  • Jesus selbst wird am Beginn der Erzählung nur kurz genannt, und das auch noch im Passiv! Er ist Auslöser der ganzen Erzählung, obwohl er selbst gar nicht als Handelnder auftritt.
  • Die Magier werden im Traum unterwiesen (Passiv!), den Auftrag des Herodes nicht auszuführen (Event Nr. 22). Hier lässt die Erzählung den Urheber der Handlung offen. Man könnte an eine göttliche Intervention im Traum denken.

Und man sollte natürlich auch schauen, ob Story und Plot voneinander abweichen: Gibt es Prolepsen oder Analepsen? Finden bestimmte Handlungen parallel statt?

  • Sowohl mit den Magiern als auch mit Herodes sind proleptische Elemente verbunden (Events Nr. 3 und 12). Beide wollen dem Kind huldigen, so zumindest das in der Sprechhandlung geäußerte Vorhaben.
  • Die Magier tun dies tatsächlich, wie die Events Nr. 20 und 21 beschreiben. Weil die Magier aber im Traum unterwiesen werden (Passiv!), nicht zu Herodes zurückzukehren, erfährt Herodes nichts von dem Ort und kann nicht huldigen. Sein in Event Nr. 12 formulierter Wunsch bleibt somit unerfüllt.

Übungsaufgabe

Schauen Sie doch einfach mal einen Film und überprüfen Sie, inwiefern im Film Plot und Story voneinander abweichen. Tauschen Sie sich in Ihrem Text-Team über Ihre Aha-Erlebnisse aus.

Danach gehen Sie mit dem Wissen um Plot und Story an Ihren neutestamentlichen Text. Was lässt sich dort entdecken?

Zum Weiterlesen

Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 58–132 (insgesamt zur sprachlichen Analyse von Erzähltexten [linguistische und narratologische Verfahren], am Beispiel eines Fußballspiels erklärt). → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar

Egger, Wilhelm/Wick, Peter: Methodenlehre zum Neuen Testament. Biblische Texte selbständig auslegen (Grundlagen Theologie), Freiburg i. Br.: Herder 62011, 174–191. → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar

Finnern, Sönke: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28 (WUNT II/285), Tübingen: Mohr Siebeck 2010. → aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar

Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie (C. H. Beck Studium), München: Beck 112019. → aus dem Netz der Uni Mainz demnächst auch als Volltext digital verfügbar

Poplutz, Uta: Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium (BthSt 100), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008.

Schmitz, Thomas A.: Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 22006, bes. 55–75 (mit einer hilfreichen Unterscheidung der Begriffe „Story“ und „Plot“).


Alle Beiträge vom Bibeldoktor finden Sie unter https://hoelschermichael.de/proseminar/

Dort finden Sie auch Hinweise zur Organisation des Proseminars (mit Teilnahmebedingungen), den Sendeplan für die einzelnen Folgen sowie erste Lese-Tipps und gängige Bibelausgaben.


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