Nach der Analyse der Eventketten, die den ersten Schritt der Analyse der Story darstellt (Folge 05), nimmt die Aktantenanalyse als deren zweiter Schritt nun die handelnden Figuren und ihre Interaktionen in den Blick.
Diesmal gibt es hier oben keinen Podcast zum Anhören, dafür weiter unten ⬇️ ein Märchen, das Sie sich vorlesen lassen können!
Inhalt
Die Aktantenanalyse
Die Aktantenanalyse untersucht die handelnden Figuren einer Erzählung. Dabei wird zunächst das Figureninventar der Erzählung erfasst, bevor in einem zweiten Schritt die Interaktionen zwischen den Figuren analysiert werden. In einem dritten Schritt ordnet man die Figuren schließlich bestimmten Rollen oder Funktionen zu.
Auf der Suche nach der Tiefenstruktur
Im Hintergrund steht die Idee, dass insbesondere traditionelle Erzählungen wie Mythen, Märchen oder eben auch neutestamentliche Texte im Kern ihrer Story immer wieder die gleichen oder zumindest ähnlichen Tiefenstrukturen erkennen lassen. In vielen Texten geht es schließlich um die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, um Helfer und Widersacher. Solche Muster möchte die Aktantenanalyse erfassen.
Weil es bei der Aktantenanalyse um festgelegte Handlungsmuster von Erzählfiguren geht, die im konkreten Plot einer Erzählung immer wieder anders akzentuiert werden, spricht man bei diesen Rollen-Mustern auch von „Handlungsgrammatiken“. [1]Vgl. etwa Jannidis, Fotis/Spörl, Uwe/Fischer, Katrin : Art. Handlungsgrammatiken, in: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online (21.10.2005), online verfügbar: … Continue reading
Was ist ein Aktant?
Ein „Aktant“ wird immer von der Handlung eines Textes her bestimmt: Aktant ist also jemand oder etwas, der/die/das handelt oder spricht.
So können auch Tiere oder Gegenstände zu Aktanten werden, wenn innerhalb der Erzählung ein Handlungsverb mit ihnen verbunden ist. Sie können die Liste der Aktanten daher einfach der erstellten Eventkette (vgl. Folge 05) entnehmen. Auch der Stern in der Eventkette zu Mt 2,1–12 (vgl. Folge 05) ist als Aktant zu definieren.
Verschiedene Modelle
Es haben sich verschiedene Modelle entwickelt, um die Aktanten einer Erzählung verschiedenen Rollen zuzuordnen und die Interaktionen zwischen ihnen zu erfassen.
Einer der ersten war Vladimir Propp (1895–1970), der sich mit russischen Zaubermärchen beschäftigte. Er hat herausgefunden, dass in diesen Märchen immer sieben Aktanten (er selbst spricht von „Handlungskreisen“) in einem festgelegten Interaktionsrahmen auftreten: [2]Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens (stw 131). Hrsg. v. Karl Eimermacher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, 79f.
- Sender: Aussendung des Helden
- Gesuchte Gestalt: die schöne Zarentochter
- Held: Auszug, um etwas zu suchen; reagiert auf Schenker
- Antiheld (falscher Held): Auszug und Reaktion auf Schenker, aber mit negativem Ergebnis
- Opponent: Schädigung des Helden, Kampf, Auseinandersetzung, Verfolgung
- Adjuvant (Helfer): Liquidierung des Unglücks, Rettung vor Verfolgung
- Schenker: Bereitstellung des Zaubermittels
Die Figuren in einer konkreten Erzählung können diesen Handlungskreisen unterschiedlich zugeordnet sein:
- Variante 1: ein Handlungskreis wird durch eine Figur dargestellt (z. B. eine Figur als Held)
- Variante 2: eine Figur umfasst mehrere Handlungskreise (z. B. eine Figur als Helfer und Schenker)
- Variante 3: ein Handlungskreis ist auf mehrere Figuren verteilt (z. B. zwei Figuren als Helfer)
Die Aktanten des Modells von Propp lassen sich auch in einem Schema erfassen:
Obwohl dieses Schema anhand russischer Zaubermärchen entwickelt wurde, funktioniert es erstaunlich gut auch mit anderen Märchen oder sogar mit biblischen Texten.
Algirdas Julien Greimas (1917–1992) hat in Anlehnung an Propp ein recht abstraktes Modell entwickelt, das ausdrücklich für alle Erzähltexte funktionieren soll. Er sieht in einer Erzählung jeweils drei Aktantenpaare interagieren:
- Subjekt und Objekt auf der Ebene des Wollens: Wer will was?
- Sender und Empfänger auf der Ebene der Kommunikation: Wer gibt wem was?
- Helfer und Widersacher auf der Ebene der Umstände: Wer hilft, wer hindert?
Eine Kombination aus den beiden vorgestellten Modellen könnte nach Martin Ebner und Bernhard Heininger so aussehen: [3]Vgl. Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 79.
Dieses Modell von Martin Ebner und Bernhard Heininger ist erfahrungsgemäß ein guter Ausgangspunkt, um biblische Texte in ihrer Aktantenstruktur zu untersuchen.
Gerade in biblischen Erzählungen ist auch ein Dreier-Aktantenschema recht häufig zu finden. Einige Gleichnisse basieren etwa darauf:
„Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner […]“
Lk 7,41
Der Geldverleiher übernimmt die Rolle des Handlungssouveräns (HS), die Schuldner übernehmen die Rollen der dramatischen Haupt- und der dramatischen Nebenfigur (dHF und dNF): [4]Vgl. dazu Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 76–78.
Die internen Beziehungen zwischen diesen drei Aktanten können variieren. So kann der Handlungssouverän nur mit der dramatischen Hauptfigur interagieren, nicht aber mit der dramatischen Nebenfigur. Die dramatische Hauptfigur wiederum tritt dann mit der dramatischen Nebenfigur in Interaktion. Haupt- und Nebenfigur können zudem entweder auf einer Hierarchiestufe stehen, oder die Nebenfigur ist der Hauptfigur untergeordnet.
Modelle sind nur Hilfestellung
Wichtig ist bei all diesen Modellen: Sie sollen Ihnen dabei helfen, Tiefenstrukturen auf der Ebene der Story zu erfassen. die Modelle können mit Ihrem Text harmonieren, müssen es aber nicht. Wie immer in der Exegese gilt also auch hier: Denken und argumentieren Sie immer vom Text her! Im Zweifelsfall sollten Sie ein neues Modell entwickeln, das Ihrem Text besser gerecht wird.
Methodisches Vorgehen
- Schritt 1: Sie sollten zunächst die einzelnen Figuren der Erzählung in einer Liste erfassen:
- Wer spricht?
- Wer handelt?
- Sie können sich dabei auch einfach auf die bereits erstellte Eventkette beziehen (Folge 05).
- Schritt 2: Anschließend sollten Sie die Interaktionen zwischen den Figuren erfassen:
- Wer kommuniziert mit wem?
- Wer hilft wem?
- Wer behindert wen?
- Wer ist gesucht?
- Schritt 3: Versuchen Sie nun, die Figuren bestimmten Aktantenrollen zuzuordnen und entwickeln Sie ein Schema der Aktanten.
- Die Modelle dienen dabei der Orientierung, sollten aber nach Bedarf angepasst werden.
- Nutzen Sie Pfeile oder andere grafische Elemente, um die Interaktionen zu kennzeichnen.
- Schritt 4: Am Ende tragen Sie Ihre neuen Erkenntnisse zusammen:
- Gibt es Helfer und Opponenten?
- Wer ist die Hauptfigur der Geschichte?
- Stehen sich bestimmte Aktanten als Oppositionen besonders gegenüber?
- Und so weiter …
Beispiel: Rotkäppchen
Hören Sie sich das Märchen von Rotkäppchen an und ordnen Sie die Aktanten in das Schema ein. Verschieben Sie die Aktanten dazu in das entsprechende Feld.
Sollte Ihr Browser hier nichts anzeigen, klicken Sie bitte hier.
Übungsaufgabe
- Entwickeln Sie zusammen mit Ihrem Text-Team ein Aktantenschema für Ihre Perikope.
- Überlegen Sie gemeinsam, mit welchen Kriterien sich ein gutes und ein weniger gutes Aktantenmodell unterscheiden lassen.
Wenn Sie fertig sind, notieren Sie:
- eine Skizze Ihres Aktantenschemas (ggf. mit Fragen oder Unsicherheiten) und
- drei Kriterien.
Zum Weiterlesen
Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 75–79.114f. → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar
Egger, Wilhelm/Wick, Peter: Methodenlehre zum Neuen Testament. Biblische Texte selbständig auslegen (Grundlagen Theologie), Freiburg i. Br.: Herder 62011, 174–177.181f. → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar
Greimas, Algirdas Julien: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 4). Aus dem Französischen übersetzt von Jens Ihwe, Braunschweig: Vieweg 1971, 157–177.
Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens (stw 131). Hrsg. v. Karl Eimermacher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975.
Alle Beiträge vom Bibeldoktor finden Sie unter https://hoelschermichael.de/proseminar/
Dort finden Sie auch Hinweise zur Organisation des Proseminars (mit Teilnahmebedingungen), den Sendeplan für die einzelnen Folgen sowie erste Lese-Tipps und gängige Bibelausgaben.
Anmerkungen
↑1 | Vgl. etwa Jannidis, Fotis/Spörl, Uwe/Fischer, Katrin : Art. Handlungsgrammatiken, in: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online (21.10.2005), online verfügbar: http://li-go.de/definitionsansicht/prosa/handlungsgrammatiken.html (abgerufen am 27.05.2020). |
---|---|
↑2 | Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens (stw 131). Hrsg. v. Karl Eimermacher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, 79f. |
↑3 | Vgl. Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 79. |
↑4 | Vgl. dazu Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 76–78. |
Ein Gedanke zu „Der Bibeldoktor │ Online-Proseminar #06“