Der Bibeldoktor │ Online-Proseminar #08

Was Ihr Evangelium über Ihren Charakter verrät? Darum geht es in den Folgen 8 und 9 vom Bibeldoktor.

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Material zum Podcast:
Hier ein schönes Video zu Filmfehlern bei Pumuckl.


Die 27 Bücher des Neuen Testaments, vom Matthäusevangelium bis zur Johannesoffenbarung, wurden zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten der Mittelmeerwelt geschrieben. Die Idee, dass die neutestamentlichen Texte ihre ganz eigenen Entstehungsbedingungen und Kontexte haben, begleitet uns bei den ab jetzt in diesem Semester behandelten diachronen Methodenschritten (vgl. dazu die Folge 01).

Endredaktion vs. Entstehungsgeschichte

Wenn neutestamentliche Texte datiert werden, gibt man in der Regel das Jahr der (vermuteten) Endredaktion an, also die Zeit, in der diese Schrift abgeschlossen wurde. Die Person, die diese letzte Redaktion verantwortet, bezeichnet man als Endredaktor. Bei unseren ersten drei Evangelien heißen diese Endredaktoren Matthäus (Mt), Markus (Mk) und Lukas (Lk).

Man kann darüber hinaus aber auch nach den Entwicklungsprozessen der Texte bis zu dieser Endredaktion fragen. Der synoptische Vergleich ist ein Verfahren, um diesen Prozess der Textentstehung und Textentwicklung am Beispiel der drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas), die eng miteinander verwandt sind, nachzuzeichnen. Bei diesem Schritt handelt es sich somit um eine diachrone Methode, weil die Entwicklung eines Textes durch die Zeit hindurch untersucht wird (vgl. Folge 01).

Synoptischer Vergleich

Wörtlich betrachtet, bezeichnet „synoptischer Vergleich“ einen Vorgang bei dem etwas „zusammengeschaut“, also verglichen wird. Genau das meint der griechische Begriff σύνοψις/sýnopsis. In der Exegese bezeichnet man mit dem synoptischen Vergleich meistens den Vergleich der drei synoptischen Evangelien des Matthäus (Mt), Markus (Mk) und Lukas (Lk). Nach der Zwei-Quellen-Theorie stehen diese Texte in einem ganz besonderen Abhängigkeitsverhältnis.

Hintergrund: Die Zwei-Quellen-Theorie

Die Zwei-Quellen-Theorie versucht, die auffälligen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei synoptischen Evangelien des Mt, Mk und Lk zu erklären, indem sie die gegenseitige Abhängigkeit dieser Texte bestimmt. Die Annahmen der Zwei-Quellen-Theorie lassen sich in einem Modell darstellen:

Die Zwei-Quellen-Theorie im Modell

Zwei Teilhypothesen sind zentral für diese Theorie:

  1. Die erste Teilhypothese der Zwei-Quellen-Theorie ist, dass das Markusevangelium (Mk) älter ist als die Evangelien nach Matthäus (Mt) und Lukas (Lk). Matthäus und Lukas haben also beide das Markusevangelium in ihre Evangelien übernommen. Diese Teilhypothese wird auch einfach knapp als Markuspriorität bezeichnet.
  2. Darüber hinaus bieten Matthäus und Lukas aber auch Material – häufig im gleichen Wortlaut –, das im Markusevangelium nicht enthalten ist. Für dieses Material nimmt man eine gemeinsame Quelle (Q) an, die uns heute nicht mehr schriftlich vorliegt. Diese Quelle Q ist die zweite Teilhypothese dieser Theorie.

Neben diesem Bestand, den Matthäus und Lukas aus Markus und Q übernehmen, hat jedes einzelne Evangelium noch eigenes Material, das bei dem anderen jeweils nicht überliefert ist: Es gibt also matthäisches Sondergut (Sg.Mt) und lukanisches Sondergut (Sg.Lk).

Praktisches Vorgehen

Der synoptische Vergleich ermöglicht es, die Redaktionstätigkeit der Evangelisten Matthäus und Lukas zu erfassen und ihre jeweiligen sprachlichen Vorlieben und theologischen Interessen aufzudecken. Hier arbeitet der synoptische Vergleich eng mit der Redaktionskritik zusammen, die uns in der nächsten Folge beschäftigen wird.

Der synoptische Vergleich erlaubt nur Aussagen über die Redaktionstätigkeit von Matthäus und Lukas, sofern sie Markus als Vorlage haben. Ihr Sondergut ist mit dem synoptischen Vergleich ebenso wenig zu erfassen wie die Vorgeschichte des Markusevangeliums. Dazu wäre eine literarkritische Herangehensweise nötig.

Das Handwerkszeug: Die Synopse

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Sonderfall: Ein Q-Text als Vorlage

Mit dem Zwischenschritt der Q-Rekonstruktion ist ein synoptischer Vergleich in ähnlicher Weise auch in den Fällen möglich, in denen Mt und Lk Q-Text verarbeiten. Das bedeutet: Die im Matthäus- und Lukasevangelium parallel überlieferte Q-Passage muss von den Bearbeitungsspuren des Matthäus und Lukas bereinigt werden. [1]Zum genauen Vorgehen bei der Q-Rekonstruktion vgl. etwa Hölscher, Michael: Matthäus liest Q. Eine Studie am Beispiel von Mt 11,2–19 und Q 7,18–35 (NTA 60), Münster: Aschendorff 2017, 56–59. Erst nachdem der Q-Text rekonstruiert worden ist, kann man einen Matthäus- oder Lukastext mit der Q-Vorlage synoptisch vergleichen. Hilfsweise können Sie sich auch einfach auf vorhandene Q-Rekonstruktionen beziehen, wie die von Paul Hoffmann und Christoph Heil. [2]Hoffmann, Paul/Heil, Christoph (Hrsg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt/Leuven: Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Peeters Publishers 42013.


Arbeitsschritt 1: Die Perikope selbst untersuchen

Schauen Sie in die Synopse und prüfen Sie, ob ein Matthäus- oder Lukasstoff eine Parallele bei Markus hat. Wenn dies der Fall ist, arbeiten Sie mit dem Buntstift weiter. Kennzeichnen Sie:

  • Blau: die wörtlichen (!) Übereinstimmungen zwischen Mk, Mt, Lk
  • Braun: die Textteile, die sich nur bei Mk und Mt finden
  • Orange: die Textteile, die sich nur bei Mk und Lk finden
  • Rot: die Übereinstimmungen, die Mt und Lk gegen Mk haben (wenn diese im Mk-Kontext vorkommen, handelt sich es sich um minor agreements; wenn sie nicht im Mk-Kontext stehen, handelt es sich um Stoff aus Q)
  • Grün: Die Textteile, die nur bei Mk oder nur bei Mt oder nur bei Lk vorhanden sind (= Sondergut).

Es gibt Textstellen, bei denen Mt oder Lk inhaltlich mit der Vorlage übereinstimmen, aber sprachlich ganz unterschiedlich formulieren. In solchen Zweifelsfällen können Sie

  • die Passage in der entsprechenden Farbe gestrichelt kennzeichnen,
  • Teile des Wortes in einer anderen Farbe markieren oder
  • ein Wort mit zwei Farben unterstreichen.

Nach dem Unterstreichen systematisieren Sie Ihre Beobachtungen, indem Sie folgende Fragen beantworten:

  • Was ist gleich?
    • Ist der Erzählfaden im Kern gleich?
    • Welche Teile des Textes sind gleich? (Häufig werden Anfang und Ende eines Textes am stärksten verändert)
    • Überwiegt Ihrem Eindruck nach die Ähnlichkeit oder überwiegen die Unterschiede?
  • Wo liegen die Unterschiede? Wie lassen sie sich systematisieren?
    • Werden sprachlich-stilistische Verbesserungen vorgenommen? Dies betrifft etwa die Wortwahl, sprachliche Glättungen komplizierter Formulierungen, inhaltliche Verdeutlichungen oder Vereinfachungen und vieles mehr.
    • Werden sachlich-theologische Veränderungen vorgenommen? Dies können Umstellungen in der Wortfolge sein, um bestimmte Inhalte hervorzuheben. Aber auch inhaltliche Überarbeitungen mit einer besonderen redaktionellen Absicht sind denkbar.
    • Gibt es sachliche Verbesserungen? Werden zu Zahlen, Orten, Zeiten oder anderen Rahmenbedingungen andere Angaben gemacht?
    • Gibt es auffällige Kürzungen oder Zusammenfassungen?
    • Gibt es Erweiterungen des Textes?

Arbeitsschritt 2: Die Perikope im Kontext untersuchen

Schauen Sie sich in der Synopse die Perikopen vor und nach Ihrer Perikope an: Folgen Mt und/oder Lk der Reihenfolge des Mk-Stoffes oder haben Sie Stoffe verschoben? Denkbar sind etwa die folgenden Phänomene:

  • Eine Perikope wird aus dem Mk-Kontext gelöst und an ganz anderer Stelle im Mt- oder Lk-Evangelium eingefügt.
  • Durch solche Verschiebungen können neue thematische Zusammenhänge konstruiert werden, etwa die Sammlung von Wundererzählungen in Mt 8f.
  • Im Inhalt Ihrer untersuchten Perikope gibt es möglicherweise redaktionelle Anpassungen, die auf solche Verschiebungen der Perikope reagieren.

Arbeitsschritt 3: Die Tendenz des Redaktors erfassen

Gehen Sie von den inhaltlich gewichtigsten Änderungen aus und versuchen Sie von dorther, eine besondere Absicht oder zumindest eine Tendenz des Redaktors Mt oder Lk zu erfassen. Hier helfen Ihnen auch die Kommentare zum Mt- und Lk-Evangelium weiter.

In der nächsten Folge: Redaktionskritik

Sie haben gesehen: Der synoptische Vergleich und die Literarkritik ermöglichen Ihnen, das Material systematisch zu sichten und zu sortieren. Dabei geht es um die Frage: Wie haben die neutestamentlichen Autoren ihre Textvorlagen bearbeitet? Im Anschluss fragt die Redaktionskritik nach dem Interesse der Autoren hinter den festgemachten Änderungen. Doch dazu mehr in der nächsten Folge.

Übungsaufgabe

  1. Führen Sie für Ihre Perikope einen synoptischen Vergleich durch (den entsprechenden Auszug aus der Synopse stelle ich Ihnen zur Verfügung). Notieren Sie im Anschluss die redaktionellen Änderungen, die Mt und/oder Lk vorgenommen haben. Notieren Sie Ihre Ergebnisse stichpunktartig.
  2. Systematisieren Sie die redaktionellen Änderungen mit Hilfe der oben vorgestellten Kategorien. Notieren Sie Ihre Ergebnisse stichpunktartig.
  3. Finden Sie heraus, was genau mit “minor agreement” gemeint ist und notieren Sie eine Definition. Prüfen Sie, ob sich in Ihrer Perikope ein Beispiel dafür finden lässt und notieren Sie dies ebenfalls.

Zum Weiterlesen

Zur Zwei-Quellen-Theorie

Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 153f. → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar

Ebner, Martin: Die synoptische Frage, in: Ebner, Martin/Schreiber, Stefan (Hrsg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 32020, 73–91. → aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar

Bull, Klaus-Michael: Die synoptischen Evangelien, in: Rösel, Martin/Bull, Klaus-Michael: Bibelkunde zum Alten und Neuen Testament, online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/evangelien/synoptiker/ (Zugriff am 09.06.2020).

Zur Quelle Q

Ebner, Martin: Die Spruchquelle Q, in: Ebner, Martin/Schreiber, Stefan (Hrsg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart: Kohlhammer 32020, 92–117.

Hieke, Thomas: Art. Logienquelle – Spruchquelle, in: Wibilex, online abrufbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51967/ (Zugriff am 29.05.2021).

Hoffmann, Paul/Heil, Christoph (Hrsg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt/Leuven: Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Peeters Publishers 42013.

Zum synoptischen Vergleich

Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 133–159. → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar

Hainz, Josef (Hrsg.): Synopse zum Münchener Neuen Testament, Düsseldorf: Patmos 22007.

Aland, Kurt (Hrsg.): Synopsis quattuor evangeliorum. Locis parallelis evangeliorum apocryphorum et patrum adhibitis, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 151996.

Zur Literarkritik

Ebner, Martin/Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn: Schöningh 42018, 161–182. → Lehrbuchsammlung der Bereichsbibliothek Theologie in Mainz und aus dem Netz der Uni Mainz auch als Volltext digital verfügbar


Alle Beiträge vom Bibeldoktor finden Sie unter https://hoelschermichael.de/proseminar/

Dort finden Sie auch Hinweise zur Organisation des Proseminars (mit Teilnahmebedingungen), den Sendeplan für die einzelnen Folgen sowie erste Lese-Tipps und gängige Bibelausgaben.


Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum genauen Vorgehen bei der Q-Rekonstruktion vgl. etwa Hölscher, Michael: Matthäus liest Q. Eine Studie am Beispiel von Mt 11,2–19 und Q 7,18–35 (NTA 60), Münster: Aschendorff 2017, 56–59.
2 Hoffmann, Paul/Heil, Christoph (Hrsg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt/Leuven: Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Peeters Publishers 42013.

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